Literatur: Golan, Naomi, Krisenintervention (Treatment in crisis situations, dt.). Strategien psychosozialer Hilfen, Freiburg Br: Lambertus-V, 1983. Seite 20-23
Eine Krise lässt sich mit 10 Punkten beschreiben:
Sie stammen zum großen Teil von Erich Lindemann und Gerald Caplan und sind im Rahmen ihrer Tätigkeit an der Harvard School of Medicine, Department of Psychiatry, und an der Harvard School of Public Health entstanden. Diese ersten Äußerungen wurden dann durch andere Theoretiker wie Lydia Rapoport, Howard Parad, David Kaplan, Gerald Jacobson, Marvin Strickler und Peter Sifneos weiterentwickelt und verbessert.
Krisensituationen können – in Art von Episoden – im normalen Lebensverlauf von Einzelnen, Familien, Gruppen, Gemeinwesen und Staaten auftreten.
In der Regel haben sie ihren Anfang in einem bedrohlichen Ereignis. Das kann sein:
¤ eine von außen bewirkte und zeitlich begrenzte schwere Belastung
¤ ein inneren Druck
¤ ein einzelnes großes, katastrophales Geschehen
¤ eine Vielzahl kurz aufeinanderfolgender Unglücksfälle
Auch sind Mischungen dieser Kategorien möglich, was die Krise meist noch schwieriger macht.
Der Druck, der durch dieses bedrohliche Ereignis entsteht, irritiert den Menschen und macht ihn verletzlich. Beim den Anstrengungen wieder ins Gleichgewicht zu finden, durchschreitet der Mensch eine Reihe voraussagbarer Phasen:
zunächst versucht er es mit seinem
¤ üblichen Repertoire an problemlösenden Mechanismen und gerät dabei zunehmend in Spannung, weil sie nur wenig wirken.
¤ Wenn er keinen Erfolg sieht, wächst seine Beunruhigung, und er greift zu neuen »Notfallmaßnahmen«, um mit der Situation fertigzuwerden.
Wenn das Problem anhält und sich weder lösen, noch umgehen oder neu definieren lässt, dann erreicht die Spannung einen Höhepunkt, und ein auslösender Faktor kann den Punkt herbeiführen, an dem die individuellen Fähigkeiten versagen und der Mensch in Desorganisation rutscht. Das ist das Stadium der akuten Krise.
Die betroffene Person kann zur Sicht der belastenden Ereignisse drei Perspektiven wählen
¤ als Bedrohung seiner instinktiven Bedürfnissen oder seiner Autonomie und seinem Wohlergehen
¤ als einen Verlust eines Menschen, einer Fähigkeit, einer Position
¤ als Herausforderung; es geht um sein Überleben, sein Wachstum, seinen Sieg über die Dinge
Diese unterschiedlichen Betrachtungsweisen rufen jeweils eine charakteristische emotionale Reaktion hervor, und damit wird deutlich, welche subjektive Bedeutung das Geschehen für den Menschen besitzt:
¤ wenn er es als Bedrohung empfindet, steigt seine Angst;
¤ wenn er es als Verlust wahrnimmt, sind Depression und Trauer die Folge;
¤ die Betrachtung des Ereignisses als Herausforderung führt gleichzeitig zu gesteigerter Angst, weckt aber auch Hoffnung und Erwartung.
Je nach der subjektiven Sichtweise und Deutung wird ein und dieselbe belastende Situation in unterschiedlicher Weise und mit unterschiedlicher Intensität erfahren.
Eine Krisensituation ist keine Krankheit und keine pathologische Form des Erlebens. Vielmehr handelt es sich um eine ganz reale Auseinandersetzung, die der Mensch im Augenblick zu führen hat.
Sie kann aber alte Konflikte wieder zum Leben erwecken, die früher nicht oder nur teilweise gelöst worden sind. Deshalb reagiert der Mensch in unangemessener oder übertriebener Weise. In solchen Fällen kann die Krisenintervention Verschiedenes bewirken:
¤ die gegenwärtige Schwierigkeit kann beseitigt werden
¤ der alte Konflikt kann endgültig verarbeitet und die Verbindung zwischen beiden kann unterbrochen werden
Jede Art von Krise besteht aus einer Reihe voraussagbarer Stadien, die sich im Einzelnen festhalten und abstecken lassen. Die emotionalen Reaktionen und die Verhaltensweisen in jedem dieser Stadien lassen sich in der Regel voraussehen. Wenn der Mensch an eine bestimmte Phase fixiert bleibt oder eine Phase »auslässt«, dann ist das ein Hinweis darauf, wo er sich »festgefahren« hat bzw. was seiner Unfähigkeit, seine Krisenarbeit zu leisten und die Situation zu bewältigen, zugrunde liegt.
Zwischen dem Hereinbrechen und der endgültigen Lösung der Krise kann die Zeit von Fall zu Fall verschieden lang sein - je nach der jeweiligen Situation, den kognitiven, gefühls- und verhaltensmäßigen Aufgaben im jeweiligen Fall und den vorhandenen Hilfsquellen und Möglichkeiten. Die Phase des akuten Ungleichgewichts ist aber immer zeitlich begrenzt und dauert in der Regel nicht länger als vier bis sechs Wochen. Es wurden aber auch größere Zeiträume der Krise beobachtet, sie können sich auch über Jahre dahinziehen.
In der Krise ist der Mensch in der Regel Hilfeangeboten gegenüber besonders aufgeschlossen. Seine üblichen Bewältigungsmuster wirken nicht und die Person ist offener für äußere Einflüssen und Veränderungen.
Schon schwache Impulse können große Wirkung zeigen, eine kleine Hilfeleistung, die am richtigen Ort ansetzt, kann sich als sehr nützlich erweisen.
In der Krise entwickelt der Betroffene neue Einstellungen und dieser kann sich besser an die kritische Situation anpassen. Andere Einstellungen und verbesserte Anpassungen befähigen den Menschen, in Zukunft neue Situationen wirksamer zu bewältigen.
Das kann auch anders ablaufen und die neuen Einstellungen und Anpassungen wirken ungünstig:
Wenn in dieser kritischen Zeit Hilfe nicht verfügbar ist, dann kann es geschehen, dass der Mensch sich unzureichende oder fehl-angepasste Verhaltensweisen aneignet und dann in Zukunft weniger gut mit seinem Leben zurechtzukommen.
Literatur: Golan, Naomi, Krisenintervention (Treatment in crisis situations, dt.). Strategien psychosozialer Hilfen, Freiburg Br: Lambertus-V, 1983. Seite 20-23